Ich betrete den alten Teil des Waldfriedhofs durch ein von zwei Sphinxen bewachtes Steintor, direkt an der Forstenrieder Straße im Stadtteil Großhadern. Eine ältere Dame hat sich, auf einen Stock gestützt, auf einer der zahlreichen Bänke niedergelassen. Vielleicht ist sie gerade in Gedanken bei einem geliebten Menschen?
Zu rechter und linker Hand zweigen gepflegte Kieswege von der breiten Einfahrt für die Fahrzeuge des Friedhofpersonals und der Gärtner ab. Die Wege verästeln sich dann zu immer kleiner werdenden geschwungenen Pfaden, wie der Aufbau einer Lunge. Und tatsächlich weist der Grundriss des Friedhofs eine gewisse Ähnlichkeit mit der Form eines Lungenflügels auf.
Tief atme ich die Waldluft ein und entscheide mich erstmal rechts abzubiegen und in Nähe der Friedhofsmauer zu wandern um mich dann treiben zu lassen, wo mich Augen und Gefühl hinziehen.
Noch hört man den Verkehr auf der Fürstenrieder Straße ganz deutlich, aber je weiter ich mich ins Zentrum bewege, ebben die Straßengeräusche ab und die zahlreichen Vögel beherrschen mit ihren Gesängen die Szene. Vereinzelte Sonnenstrahlen bahnen sich ihren Weg durch die dichten Baumkronen hinab auf die Grabfelder und den üppigen Bewuchs der Umgebung. Besonders an heißen Sommertagen ist es ein erfrischendes Erlebnis im Schatten der riesigen alten Bäume zu wandeln und den Duft des feuchten Waldbodens aufzunehmen.
Man hat hier so gar nicht das Gefühl auf einem Friedhof zu sein, sondern eher in einer riesigen Parkanlage, denn die Ruhestätte liegt in dem ehemaligen Hochwaldforst des Fürstenrieder Schlosses.
Ab und zu überholt mich jemand auf dem Fahrrad. Das wird wohl deshalb von der Friedhofsleitung toleriert, damit die Besucher die oftmals langen Wegstrecken komfortabel zurücklegen können.
Auffallend ist, wie gepflegt die Gräber und auch die Wege sind. Bei den insgesamt 59.000 Grabplätzen und dem riesigen bewachsenen Areal ist das wirklich lobenswert und stellt eine logistische Meisterleistung dar.
Manche Gräber liegen ganz dicht beieinander, auf engstem Platz angelegt, andere hingegen sind großzügig und oftmals einzeln stehend auf Lichtungen drapiert. Von winzigen Grabstätten bis zum monumentalen Mausoleum ist an Grabkunst vielerlei geboten. Das Gefälle von Reich und Arm scheint hier genauso vertreten zu sein, wie im richtigen Leben. Aber nicht immer sind die großen beeindruckenden Grabanlagen auch die schöneren. Gerade die kleinen Grabkreuze, die kunstvoll aus Holz geschnitzt oder filigran aus Eisen geschmiedet wurden, sind besonders reizvoll anzusehen.
Je nachdem, wie stark die Steinfiguren mit Moos überzogen und von Efeu umrankt sind, kann man ihr Alter erahnen. Die Vergänglichlichkeit von Zeit wird auf diese Weise ganz eindrucksvoll dargestellt. Schön zu sehen ist auch, dass Wildwuchs nicht überall beseitigt wird.
Zwei Mütter biegen mit ihren Kinderwagen in einen schmalen Waldpfad ein. Ein paar Sätze dringen zu mir. Sie unterhalten sich über ihre Entbindung: „Nachdem die Wehen eingesetzt hatten, ging alles ganz schnell.“ Welch schönes Gespräch, an einem Ort von dem das Thema Geburtswehen nicht weiter entfernt sein könnte. Aber für denjenigen, der an Wiedergeburt glaubt, liegen die beiden Extreme Geburt und Tod ja sowieso ganz nah beeinander.
Eine freundliche Dame spricht mich an, vielleicht hat sie meine umgehängte Kamera gesehen. Sie weist mich auf ein imposantes Mausoleum in unmittelbarer Nähe hin: „Hier liegt der Zirkusdirektor Carl Krone. Da wird gerne fotografiert.“ Ich bedanke mich und mache artig auch ein paar Aufnahmen. Im Inneren der Prunkstelle liegt die lebensgroße Figur eines jungen Elefanten aus weißem Marmor. Ja, so muss das beim Zirkus sein.
Wer sich für weitere Prominenz interessiert, kann auf der weitläufigen Friedhofsanlage natürlich auch sehen wie Frank Wedekind, Max Reger, Fritz Wunderlich, Leni Riefenstahl, Hansjörg Felmy, Michael Ende, Werner Heisenberg, Franz von Stuck und noch viele andere Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Kultur, hier zur letzten Ruhe gebettet sind.
Plötzlich entdecke ich ein Rotkehlchen unmittelbar vor mir. Es sitzt ganz still auf dem Dachfirst von einem großen Steintor, genau über einem eingravierten und rot ausgemalten Prankenkreuz. Da fällt mir die Christuslegende der schwedischen Erzählerin Selma Lagerlöf ein.
In der Geschichte beklagt sich das graue Rotkehlchen am Schöpfungstage bei Gott, dem die Farben ausgegangen waren, dass es seinen Namen bekam, ohne am ganzen Körper auch nur eine einzige rote Feder zu haben. Der Vogel erhielt daraufhin von Gott den Auftrag, sich die roten Federn selbst zu verdienen. So fasste es Mut und zog mit seinem kleinen Schnabel einen Stachel aus der Stirn des Gekreuzigten. Während es dies tat, fiel ein Tropfen Blut auf die Brust des Vögleins herab. Dieser verbreitete sich schnell und färbte alle die kleinen, zarten Federn der Kehle ganz rot. Seitdem gilt das Rotkehlchen den Sterbenden als tröstender Beistand.
Man kann auf dem 170 Hektar großen Waldfriedhof stundenlang wandern und sich von den vielen unterschiedlich angelegten Plätzen inspirieren lassen und dabei ganz wunderbar seinen Gedanken nachhängen. Es ist ein magischer Ort der stillen Einkehr und der Erholung. Man wird ruhig, vielleicht sogar bedächtig oder demütig. Die Hektik des Alltags oder belastende Gedanken kann man hier getrost ablegen. Sie haben an dieser Stätte keine Bedeutung. Die Zeit vergeht, aber irgendwie scheint sie auch stehen zu bleiben.
Als ich meine Runde beende, entdecke ich die ältere Dame immer noch auf der Bank sitzend. So schließt sich der Kreis. Vielleicht spielt ja die Zeit mit fortschreitendem Alter immer weniger eine Rolle?
Fröhlich beschwingt und bestens erholt erreiche ich den Ausgang.
Was für ein herrliches Gefühl es doch ist, wenn man einen Friedhof lebend verlassen kann.
Waldfriedhof
Fürstenrieder Straße 288
81377 München
Tel. 089-89899340