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Digestif

Es gab Zeiten, in denen das Schönste an einem deftigen Mahl der Schnaps danach war.

Ein Berliner Eisbein mit Erbspüree, ein norddeutsches Grünkohlessen, ein bayerischer Schweinsbraten – solche Gerichte waren ohne eiskalten Wodka, Doppelkorn, Aquavit oder Bauernobstler schlichtweg nicht vorstellbar. Ja, man kennt auch Gerichte wie etwa an der französischen Atlantikküste die berühmten Kaldaunen oder Kutteln („Tripes à la mode de Caen“), bei denen der Calvados danach nicht ausreicht. Die verlangen nach dem „trou normand“, dem „normannischen Loch“; im Klartext den Calvados zwischendurch, um für den Rest des Essens wieder ein bisschen Platz zu schaffen. Mehrfachreichungen sind durchaus möglich.

Digestif klingt wie ein gesundes Heilmittel

Das Wort Digestif kommt vom lateinischen Wort für Verdauung und gibt dem Getränk diesen wunderbar gesunden und beruhigenden Klang eines Heilmittels. Seine Übersetzung mit „Verdauungsschnaps“ wäre viel zu gewöhnlich – Barkeeper umschreiben den Digestif beispielsweise mit „after dinner drink“, den man pur oder in Form von Cocktails genießen kann. Zu letzteren gehören etwa Kreationen wie „Golden Cadillac“, „Brandy Alexander“ oder „Black Russian“. Einer der berühmtesten Digestifs, der allerdings nicht unter den Begriff Cocktail fällt, ist der Irish Coffee. Der ist vermutlich noch bekannter als der dazugehörige Whiskey. Erfunden wurde er nach dem Krieg auf dem irischen Flughafen Shannon, wo die Propellerflugzeuge aus Kontinentaleuropa noch ein letztes Mal auftankten, bevor sie zu dem großen Sprung über den Atlantik ansetzten. Er war das klassische Getränk der Transitpassagiere vor dem Weiterflug. Inzwischen, im Zeitalter der Langstrecken-Jets, ist Shannon Airport in eine Art Dornröschenschlaf gesunken – die Botschaft vom Irish Coffee aber ging in alle Welt. Da er sich aus einem starken Kaffee, Whiskey, Zucker und Sahne zusammensetzt, ist er streng genommen eher eine Kombination aus Digestif und Dessert.

Bei den pur zu genießenden Digestif ist die Auswahl schier unendlich. Ihr Universum bietet etwas für jeden Geschmack und Geldbeutel: von Cognac, Armagnac und Calvados über Rum, Maltwhisky, Grappa und Marc, über Obstgeist oder -brände bis zu den schon erwähnten, in Skandinavien und Norddeutschland besonders geschätzten Aquavits. Daneben gibt es die sogenannten Bitters oder Halbbitters wie Fernet Branca, Carpano, Averna oder Underberg, die auf einer unterschiedlichen Anzahl von Kräutern basieren. Selbst während der amerikanischen Prohibition galten bestimmte Bitterspirituosen als Medizin und fielen nicht unter das Alkoholverbot. Schließlich muss man zu den Digestifs noch eine Unzahl von Likören zählen.

Da sowohl das Gesundheitsbewusstsein als auch die Angst vor einem Führerscheinentzug stetig zunimmt, geht der Konsum von Digestif seit Jahren ebenso stetig zurück. In den romanischen Ländern werden sie häufig durch verdauungsfördernde Kräutertees ersetzt, die von der medizinischen Wirkung sicherlich ebenbürtig sind. Niemals aber können sie das stimulierende Erlebnis wettmachen, wenn in einem guten Restaurant nach einem perfekten Essen ein reich bestückter Digestifwagen an den Tisch gerollt wird.

Günter Schöneis